Oberlandesgericht Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024
(Vorinstanz Landgericht Trier 4 O 8/21 vom 24.05.2022)
1. Die Auffassung der Beklagten gegen den Geschädigten, ihm sei ein Überwachungsverschulden vorzuwerfen mit dem Ergebnis einer verlängerten Reparatur und erheblich erhöhten Mietwagenkosten, wird zurückgewiesen.
2. Die in der Berufung nachgeschobene neue Abtretungserklärung führt zur Aktivlegitimation der Klägerin.
3. Auch die Auffassung der Beklagten dazu, dass der Geschädigte gegen seine Schadenminderungspflicht verstößt, wenn er sich vor einer Anmietung eines Ersatzwagens nicht am Markt erkundigt, wird vom Berufungsgericht nicht geteilt, da der Geschädigte sich mit der Anmietung zu Werten nahe Schwacke das Wirtschaftlichkeitsgebot beachtet habe.
4. Die Schätzung des Erstgerichtes mittels Schwacke-Vergleichswerten ist nicht zu beanstanden.
5. Eine Argumentation pro Fraunhofer ist kein Argument gegen die Anwendung der Schwacke-Liste.
6. Auch die von der Beklagten aufgezeigten Internet-Screenshots gebieten aus mehreren Gründen kein Absehen von einer Anwendung der Schwacke-Liste zur Schätzung erforderlicher Mietwagenkosten.
7. Das konkrete Mobilitäts-Paket des Vermieters für den Geschädigten enthält – für den Geschädigten erforderliche – unfallbedingte Mehrleistungen, die einen höheren Mietwagenpreis rechtfertigen.
8. Die Kosten der erforderlichen Nebenleistungen sind darüber hinaus vom Versicherer des Schädigers zu erstatten.
Zusammenfassung: Das Oberlandesgericht Koblenz bestätigt eine Schwacke-Entscheidung der Vorinstanz vollständig und verwirft die grundlegenden Argumente der Versicherer im Mietwagenstreit: keine Erkundigungspflicht, Fraunhofer kein Argument, Internet-Screenshots völlig neben der Sache, Aufschlag nachvollziehbar, Nebenkosten hinzu.
Bedeutung für die Praxis: Ein in vielen Teilen der Mietwagenkosten-Diskussion beachtenswertes Berufungsurteil kommt aktuell vom Pfälzischen Oberlandesgericht in Koblenz.
Zunächst bestätigt das Gericht die Aktivlegitimation der Klägerin, die zuvor in der ersten Gerichtsinstanz beim Landgericht eine unwirksame und erst in der Berufung beim OLG eine weitere Abtretungsvereinbarung vorgelegt hatte. Da das Erstgericht – aus seiner Sicht nachvollziehbar – nicht darauf hinwies, dass die in der ersten Instanz verwendete Abtretung unwirksam war, konnte die Klägerin eine weitere Abtretung mit wirksamen Formulierungen noch in der Berufungsinstanz nachschieben und war damit nicht verspätet.
Die Vorwürfe der Beklagten gegen den Geschädigten bezüglich eines Überwachungsverschulden für eine zu lange andauernde Reparatur gehen ins Leere. Nach dem Vorbringen der Zeugen waren es objektive Gründe, die zu der Verzögerung führten. Hätte sich der Geschädigte hier eingemischt, hätte das nach der Überzeugung des Gerichts nichts geändert.
Das Landgericht Trier hatte zur Schätzung der Höhe erforderlicher Mietwagenkosten die Schwacke-Liste angewendet. Das wollte die Beklagte beim OLG unbedingt ändern. Doch das OLG sah weder in Fraunhofer noch in Fracke eine Alternative und mehr noch, das OLG sah in den Internet-Screenshots kein Argument gegen die Verwendbarkeit von Schwacke. Das OLG sezierte quasi die in den Internet-Beispielen dargestellten „Angebote“ und urteilte, dass diese nichts mit der tatsächlichen Anmietung des Geschädigten zu tun haben. Wichtig dabei ist die Tatsache, dass die Internet-Beispiele den üblicherweise von Versicherern verwendeten Beispielen entsprachen. Sie waren sehr viel später erhoben, sie betrafen kein auf das verunfallte Fahrzeug bezogen vergleichbare Fahrzeug, nicht die relevanten Nebenleistungen, nicht die vollständige Kilometerfreigabe und die Bedingungen der Internet-Beispiele wie z.B. „Bezahlung vorab“ sind mit dem Bedarf des Geschädigten nicht in Einklang zu bringen.
Zur Frage der Vortrags- und Beweislast stellt das Gericht klar, dass die Beklagte auf der Basis der (unpassenden) Screenshots nicht behaupten kann, der Geschädigte hätte sich nach günstigeren Preisen erkundigen müssen und weil er das unterlassen habe, hätte er gegen seine Schadenminderungspflicht (§ 254 BGB) verstoßen. Damit könne sie ihre Beweislast für einen Verstoß gegen § 254 BGB nicht umgehen. Daraus ist zu schließen: So lange sich der aus der Ersatzanmietung resultierende Betrag im Rahmen der Listen bewegt, gibt es keine Erkundigungspflicht für den Geschädigten.
Zum Aufschlag wegen unfallbedingter Mehrleistungen (O-Ton BGH in einem seiner Urteile „erforderlicher Unfallersatztarif“) klärt das Gericht, dass die Leistungen, die der Geschädigte vom Vermieter erhalten hat, einen höheren Preis über dem Listenpreis rechtfertigen. Hier werden der Verzicht auf die Vorkasse und andere Beispiele genannt, die nicht alle gleichzeitig vorliegen müssten.
Bezüglich der Nebenkostenposition Haftungsreduzierung argumentierte die Gegnerversicherung mit der vollkommen absurde Auffassung, der Vermieter dürfe in der Schadenabrechnung nur seine tatsächlichen Kosten der Fuhrparkversicherung berechnen. Auch das hat das Gericht nicht mitgemacht.
Zitat: „Neues Abtretungsformular an Berufung statthaft“
„Im Hinblick auf die von der Klägerin sodann als Anlage zu ihrem Schriftsatz vom 05.04.2023 vorgelegte erneute Abtretungsvereinbarung gleichen Datums hat der Senat (…) darauf hingewiesen, dass die Klägerin mit ihrer Berufung auf diesen geänderten Sachverhalt nicht wegen Verspätung prozessual ausgeschlossen ist (§ 531 Abs. 2 ZPO), da ein Hinweis auf die Unwirksamkeit der formularmäßigen Abtretung vom 29.04.2022 in erster Instanz nicht erfolgt und die Klägerin daher nicht in die Lage versetzt worden war, sich auf diese Rechtslage einzustellen.“
(OLG Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024)
Zitat: „Schwacke-Liste bestätigt“
„Auch dem generellen Hinweis der Beklagten, die Berechnung des Mietpreises nach der „Schwacke-Liste“ sei ungeeignet und die daran anknüpfende Auffassung, die Berechnung nach dem Fraunhofer Marktpreisspiegel sei die allein richtige, kann in dieser Pauschalität nicht gefolgt werden. (…) Nach dem anzuwendenden § 287 ZPO kann der Normaltarif grundsätzlich nach wie vor auf der Grundlage des Schwacke-Mietpreisspiegels im maßgebenden Postleitzahlengebiet festgestellt werden (…) Das bedeutet aber nicht, dass eine Schätzung auf der Grundlage einer anderen Liste, wie zum Beispiel der des Fraunhofer Instituts grundsätzlich fehlerhaft wäre (…). Auch kommt die Verwendung des arithmetischen Mittelwertes („Fracke“) beider oben aufgeführten Markterhebungen in Betracht (…) Die Folge hieraus ist es, dass der Geschädigte dem ihm obliegenden Wirtschaftlichkeitsgebot grundsätzlich dann genügt, wenn er sich bei Anmietung des jeweiligen Ersatzfahrzeuges an einer dieser Listen orientiert. Die jeweilige Eignung der Listen bzw. Tabellen braucht nämlich grundsätzlich nur dann näher geklärt zu werden, wenn von dem Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung mit konkreten Tatsachen aufgezeigt wird, dass sich geltend gemachte Mängel der Schätzungsgrundlage auf den zu entscheidenden Fall in erheblichem Umfang auswirken (BGH VI ZR 300/09, juris; OLG Koblenz 12 U 233/11, juris). Die Tatsachen müssen sich hierbei auf die Mietwagenpreise im konkreten Fall und gerade nicht auf die abstrakt generelle Eignung der Schätzgrundlage (also die angewendete Liste/Tabelle) auswirken (BGH in VersR 2010, 545; OLG Koblenz 12 U 233/11, juris).“
(OLG Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024)
Zitat: „Internet-Screenshots der Beklagten nicht relevant“
„Die von der Beklagten vorgelegten Alternativangebote der Firmen „Sixt Autovermietung“ und „Enterprise“ sind in mehrfacher Hinsicht nicht repräsentativ und besitzen keinerlei Aussagekraft. Sie beziehen sich nicht auf den hier in Rede stehenden Jahreszeitraum (April, Mai und Juni 2020) und weisen nicht einmal das gleiche Mietjahr aus (…) noch lässt der Vortrag der Beklagten erkennen, dass die genannten Alternativfahrzeuge dem geschädigten Verein gerade in dem benötigten Zeitraum auch tatsächlich zur Verfügung gestanden hätten und dieser sie problemlos hätte anfragen und mieten können.
(…)
Ferner ist auch zu beachten, dass konkrete Mängel der jeweils in Anwendung gebrachten Liste/Tabelle mit solchen „Vergleichsangeboten“ nur dann aufgezeigt werden, wenn tatsächlich eine Vergleichbarkeit der Angebote gegeben ist. Als Kriterien seien u.a. genannt: Vorlagepflicht einer Kreditkarte zur Erlangung des günstigeren Tarifes, Höhe der jeweiligen Selbstbeteiligung betreffend die Vollkaskoversicherung, vergleichbare Anmietungszeiträume, Anfall von Zusatzkosten, Fahrzeugklasse und Ausstattung des geschädigten Fahrzeuges und des Mietfahrzeuges, Anmietungszeitraum (Übersicht in OLG Koblenz 12 U 233/11, juris). Selbst wenn man über die Tatsache, dass die von der Beklagten vorgelegten Vergleichsangebote sich zu einem völlig anderen Anmietzeitraum verhalten, wie vorstehend aufgezeigt wurde, hinwegkommen würde, verbleibt es bei der obigen Feststellung, dass die von der Beklagten als Anlagen B5 bis B8 vorgelegten Angebote keine geeignete Vergleichsgrundlage darstellen, die die Angemessenheit des hier in Rechnung gestellten Mietpreises in einer der Beweisaufnahme zugänglichen Weise in Frage stellen könnte.
(…) und jeweils eine Beschränkung der Kilometerleistung enthalten, wohingegen die Klägerin dem Geschädigten keine Mehrkilometer in Rechnung gestellt hat, enthalten die von der Beklagten vorgelegten Vergleichspreise keine Zusatzkosten …“
(OLG Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024)
Zitat: „Geschädigter musste keine Marktforschung betreiben“
„Soweit die Beklagte eine Verletzung der Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 Satz 1 BGB) darin erblickt, dass der Kläger ohne jegliche vorherige Marktforschung einen Anbieter mit – nach ihrer Auffassung – weit überhöhten Preisen gewählt und bereits in dieser Hinsicht gegen die Verpflichtung, den Schaden gering zu halten, verstoßen habe, trägt auch dieser Einwand nicht, jedenfalls ergeben sich insoweit aus dem Vortrag der Beklagten keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine derartige Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebots durch den Geschädigten.“
(OLG Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024)
Zitat: „Unfallbedingter Aufschlag gerechtfertigt“
„Nach der neueren Rechtsprechung, insbesondere des BGH, hängt die Erforderlichkeit der aufzuwendenden Kosten, also auch eines auf die Grundmiete erhobenen Zuschlags, des sog. „Unfallersatztarifs“, davon ab, ob die höheren Kosten betriebswirtschaftlich gerechtfertigt sind, weil diese auf der besonderen Unfallsituation beruhen (…) Dies soll insbesondere dann der Fall sein, wenn folgende Kriterien erfüllt sind, die letztlich alle mit der besonderen Eil- oder Notsituation des Geschädigten einhergehen und sich von der normalen Mietsituation deutlich unterscheiden: erhöhter Verwaltungsaufwand, z.B. wegen mehrerer Beteiligter oder wegen schadensrechtlich gebotener korrekter Fahrzeugauswahl, gesteigertes Forderungsausfallrisiko durch Verzicht auf Vorfinanzierung durch Kreditkarte oder Sicherheitsleistung (Kaution), höhere Kosten durch erweiterte Mietwagenflotte, um in allen Fahrzeugklassen Mietautos anbieten zu können, anstatt sich auf gängige Modelle zu beschränken, unbestimmte Mietdauer mit Verlängerungsoption bzw. vorzeitiger Rückgabemöglichkeit, Verzicht auf jede Kilometerbegrenzung, um dem Geschädigten einen vollen zumutbaren Ausgleich für sein Unfallfahrzeug zu ermöglichen.
Auch wenn nicht festgestellt werden kann, dass sämtliche genannten unfallspezifischen Kostenfaktoren hier vorliegen, wird doch erkennbar, dass die Mietsituation betreffend das streitgegenständliche Mietfahrzeug des Geschädigten dadurch gekennzeichnet war, dass die Mietdauer völlig unbestimmt war; sie verlängerte sich von dem ursprünglich angedachten Reparaturzeitraum bis hin zu der Fertigstellung der Reparatur. Schon diese zeitlichen Faktoren, die einhergehen mit der Tatsache, dass die Anmietung kurzfristig, ohne vorherige Reservierung und Planung gewährleistet sein muss, bedingen die Vorhaltung einer größeren Fahrzeugflotte, um eine wirtschaftliche Auslastung zu gewährleisten, dies ungeachtet der vorstehend aufgezeigten gesteigerten Forderungsausfallrisiken durch die fehlende Vorfinanzierung mittels Kreditkarte (auch vorliegend erfolgte die Aushändigung des Fahrzeugs an den Geschädigten ohne Vorlage einer Kreditkarte) oder die alternative Sicherheit durch die Leistung einer Kautionszahlung. Aus alledem sieht auch der Senat die dem Geschädigten berechneten unfallbedingten Mehrkosten nicht als per se unberechtigt an und – übertragen auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt – als gerechtfertigt an, sodass die dadurch konkret erfolgte Verteuerung des Grundtarifs dem Geschädigten nicht anspruchsmindernd als Nachlässigkeiten bei der Auswahl des Mietverhältnisses entgegengehalten werden kann.
Daraus resultierend folgt aber, dass auch die Tatsache, dass die von der Beklagten vorgelegten Alternativangebote nicht vergleichbar und damit auch nicht geeignet sind, die Angemessenheit des vorliegend beanstandeten Mietpreises überhaupt in Frage zu stellen.“
(OLG Koblenz 12 U 884/22 vom 29.04.2024)