Mietwagenrecht§wi§§en MRW aktuell 51-15

Landgericht Wiesbaden 3 S 117/14 vom 30.07.2015

1. Die Fraunhofer-Liste geht von falschen Voraussetzungen aus und ist für die Ermittlung der Kosten eines Ersatzfahrzeuges nicht sachgerecht.
2. Das auf Antrag der Beklagten erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten ist unbrauchbar, da die konkreten Anmietbedingungen nicht berücksichtigt wurden.
3. Ein Geschädigter ist bei der Ermittlung von erstattungsfähigen Mietwagenpreisen nicht auf das Internet zu verweisen, welches allgemein bekannt besonders unzuverlässig und teilweise unseriös ist.
4. Einem Geschädigten ist zuzubilligen, im Internet keine Kreditkarte zu nutzen; Vertragsschlüsse im Internet beinhalten allgemein bekannte Risiken, auf die ein Geschädigter nicht verwiesen werden kann.
5. Internetpreise berücksichtigen nicht, dass Fahrzeuge für unbestimmte Dauer zu mieten sind, auch eine Vor-Ort-Recherche in Niederlassungen von Autovermietern ist einem Geschädigten nicht zuzumuten.

Zusammenfassung: Mit überzeugender Begründung kommt das entscheidende Gericht zu dem Ergebnis, dass das erstinstanzlich eingeholte Sachverständigengutachten unbrauchbar ist, da es sich nicht mit der konkreten Anmietsituation auseinandergesetzt hat. Ferner hat das Sachverständigengutachten ergeben, dass je nach Abfrage - ob per Internet, per Telefon, oder persönlich und je nach Bezahlweise, zeitlichem Vorlauf oder der Sorte der Kreditkarte - unterschiedliche Preise gelten. Das Landgericht kommt zu dem Ergebnis, dass ein Geschädigter nicht auf Mietwagenpreise aus dem Internet zu verweisen ist und dass das Internet insoweit nicht zuverlässig oder nicht seriös ist. Das Gericht schlussfolgert, dass damit auch die Werte der Fraunhofer-Liste zur Schätzung von Mietwagenkosten nach einem Unfall völlig ungeeignet sind.

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Landgericht Wiesbaden 3 S 117/14 vom 30.07.2015
(Vorinstanz Amtsgericht Wiesbaden 91 C 4060/12)


Im Namen des Volkes



Urteil



In dem Rechtsstreit XXX gegen XXX hat die 3. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden durch den Richter am Landgericht XXX aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 30.07.2015
für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 30.09.2014 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 729,92 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 25.08.2011 zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 402,82 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.09.2012 zu zahlen unter Berücksichtigung einer Zahlung in Höhe von 316,18 € am 19.11.2012.

Die Beklagte hat die Kosten erster und zweiter Instanz zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.



Gründe:



Die Parteien streiten um die Höhe der Erstattungsfähigkeit von Mietwagenkosten, die in Folge eines Unfalles der Klägerin entstanden waren. Die Beklagte haftet unstreitig für den von der Klägerin erlittenen Verkehrsunfall zu 100 %.

Die Klägerin, die aufgrund einer Schwerbehinderung ständig auf ein Auto angewiesen ist, mietete am Unfalltag, von der Werkstatt ihres eigenen Fahrzeuges aus, bei der Firma XXX vom 24.11.2010 für die noch unbestimmte Dauer der Reparatur ein Mietfahrzeug an mit Vollkaskoversicherung mit 550 € Selbstbeteiligung, Winterreifen und Bring- und Holservice. In dem Mietvertrag BI. 499 d. A wurde vereinbart, dass der Ehemann der Klägerin das Auto fahren darf. Es wurde als Tarif vereinbart: C: XXX Tarif  inkl. Kilometer.

Die Klägerin nutzte den Mietwagen schließlich bis zum Ende der Reparaturdauer für insgesamt 13 Tage und 465 km. In der Rechnung (BI. 11 d. A) wird der Tarif als cXXX-Tarif gemäß Schwacke 2006 Gr 4/13 Tage beschrieben.

Die Kosten beliefen sich auf 1.349,92 € einschließlich der Zustellung und Abholung zur Reparaturwerkstatt in Höhe von 42,02 € und einschließlich Vollkaskokosten von 17,50 € pro Tag, wovon die Beklagte 620 € erstattete.

Die Beklagte hat die Mietwagenkosten unter Bezugnahme auf die Frauenhoferliste und eigener Internetrecherchen für überhöht angesehen.

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Gutachtens (BI. 274 ff), Ergänzungsgutachten (341 ff) und Anhörung des Sachverständigen (384 ff) die Klage abgewiesen. Wegen der übrigen tatsächlichen Feststellungen und den Gründen wird auf das erstinstanzliche Urteil vom 30.09.2014 (BI. 393 ff d.A.) verwiesen.

Mit der fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung verfolgt die Klägerin ihr Interesse auf vollständige Befriedigung weiter.

Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Das Gericht hat mit Beschlüssen vom 25.02.2015 und 26.02.2015 (BI. 477 ff d.A.) rechtliche Hinweise erteilt, sowie tatsächliche Hinweise im Hinblick auf eigene Internetrecherche.

Die Berufung hat vollen Erfolg.

Das in erster Instanz eingeholte Gutachten, welches Kosten in Höhe von 4.078,03 € verursacht hatte, war von seinem als Ergebnis bezeichneten Inhalt unbrauchbar, ansonsten unterstützte es aber sogar tatsächlich den Klägervortrag.

Das Gutachten ist allein deswegen nicht verwertbar, weil der Sachverständige die jeweiligen Autovermietungen selbst aufgesucht hatte und den Grund seiner Recherche in der Regel angab und nach einer konkreten Mietdauer fragte.

Insoweit bemerkenswert ist allerdings, dass er  den Klägervortrag bestätigte, dass ohne Preisgabe seiner Kreditkartendaten über das Internet ein verbindlicher konkreter Preis gar nicht zu ermitteln war und der Mietpreis teilweise nicht nur von der Art  der Zahlung, sondern auch von der Sorte der Kreditkarte abhing. Auch per Telefon war eine sinnvolle Recherche nicht möglich, weswegen der Sachverständige die Autovermietungen persönlich aufsuchte, was der geschädigten Klägerin aber gerade nicht möglich war. Allein aus letzteren Umständen heraus wäre die Klage schon begründet, da der Sachverständige insoweit bestätigte, dass die Klägerin keine bessere Möglichkeit hatte und es auf die abstrakte Möglichkeit eines günstigeren Preises daher nicht mehr ankommen konnte.

Bemerkenswert ist bei den Ermittlungen des Sachverständigen insoweit immerhin auch, dass bei seiner Recherche die von der Klägerin gewählte XXX-Autovermietung sogar die zweitgünstigste Autovermietung war. Darüber hinaus bestätigte der Sachverständige, allerdings methodisch unhaltbar mit nur zwei Stichproben den allgemeinen Eindruck, dass die Mietwagenpreise in der Zeit zwischen der streitgegenständlichen Anmietung im Jahre 2010 und der Gutachtenerstattung in 2013 nicht unerheblich gesunken waren (gemäß den beiden Stichproben um ca. 13 %).

Völlig zu Recht hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass eine sofortige Anmietung über das Internet jedenfalls 2010 nicht möglich war. Unstreitig war seinerzeit ebenso wenig möglich, ein Fahrzeug auf unbestimmte Dauer über das Internet, insbesondere eine der Internetplattformen zum Preisvergleich zu ermitteln. Dabei ist der Klägerin ohnehin zuzubilligen, dass sie ihre Kreditkarte nicht im Internet nutzen will. Vertragsabschlüsse über das Internet beinhalten allgemein bekannte Risiken, auf die ein Geschädigter nicht verwiesen werden kann.

Glücklicherweise haben sich die Funktionen der Mietwagenplattfomen inzwischen verbessert. So enthält „billiger-mietwagen.de", worauf die Parteien hingewiesen wurden, inzwischen die Funktion „sofort verfügbar''. Nicht möglich ist nach wie vor ein Mietwagen für unbestimmte Dauer zu mieten. Eine Recherche vom 24.02.2015 ergab für ein hier streitgegenständliches Mittelklassefahrzeug pro Tag mal 13 Tagen mit Vollkaskoversicherung mit niedriger Selbstbeteiligung und Hol-·und Bringservice Preise von 962,96 € und 3.081,83 €, gemittelt 2.022,40 €.

Die Mietwagenkosten bei der größten Hamburger Mietwagenfirma, der von der Klägerin in Anspruch genommenen XXX, betrugen pro Woche 526 €. Ein Tarif mit offenem Rückgabedatum war über das Internet nicht möglich.

M.a.W.: Bei im Gegensatz zu der Recherche des Sachverständigen möglichst realitätsnahen Umständen ist offensichtlich, dass auch über das Internet im Wesentlichen keine günstigeren Preise, als von der Klägerin in Anspruch genommen, erzielt werden können.

Dass das gleiche Internetportal reißerisch mit Mietpreisen ab 10 € am Tag wirbt, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.

Diese Tatsache ist gemäß § 291 ZPO der Entscheidung zu Grunde zu legen. Offenkundig sind Tatsachen, die einer beliebig großen Anzahl von Menschen bekannt oder ohne weiteres zuverlässig wahrnehmbar sind. Dies bezieht sich jedenfalls auch insoweit auf den Inhalt des Internets, soweit es sich um Tatsachen (hier: Angebote) und nicht bloße Behauptungen handelt und auf die Offenkundigkeit zuvor hingewiesen wurde (BGH NJZ 2007, 3211).

Eines weiteren Beweises bedarf es nicht. Insbesondere stehen die Feststellungen aus den oben genannten Gründen nicht im Widerspruch zu dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens, der die Besonderheiten der Anmietung sofort mit Bring- und Holservice für unbestimmte Dauer ohne Kreditkarte nicht berücksichtigte.

Soweit die Frauenhoferliste in der Vergangenheit zu anderen Erlebnissen kommt, so geht diese ersichtlich ebenfalls von falschen Voraussetzungen auf und erweckt den Eindruck, dass die Preise nicht sachgerecht für die Situation des Unfallersatzes ermittelt wurden.

Denn es liegt schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen auf der Hand, dass ein Mietobjekt, welches einerseits sofort und andererseits für unbestimmte Dauer zur Verfügung stehen soll, ganz erheblich teurer sein muss, als in einer Situation, in der langfristig geplant werden kann.

Bei der Betrachtung des für die Schadensbeseitigung erforderlichen Geldbetrages ist darüber hinaus auch die besondere Unfallsituation zu berücksichtigen. Der Geschädigte ist gerade nicht in der Situation, wie derjenige, der u. U. für seinen nächsten Sommerurlaub einen Mietwagen bucht.

In der Unfallsituation ist es vielmehr so, dass andere Umstände, wie z. B. der Bringservice oder die sofortige Verfügbarkeit und die Zahlweise auch dann wichtiger sind, als das allergünstigste Angebot, selbst wenn man die Kosten selbst tragen müsste.

Der Geschädigte braucht sich dabei weder auf das Internet verweisen zu lassen, welches allgemein bekannt sogar besonders unzuverlässig und teilweise ist und er muss auch ohne besonderen Anlass nicht damit rechnen, von Werkstätten oder Autovermietungen oder Sachverständigen (zum Nachteil der Haftpflichtversicherung des Gegners) getäuscht zu werden. Anders als Richter, Rechtsanwälte oder Mitarbeiter von Kfz- Haftpflichtversicherungen, sind dem Normalbürger die zahlreichen Bemühungen Dritter, sich am Verkehrsunfallgeschäft zu bereichern, gerade nicht offensichtlich.

Außer im Falle der Offensichtlichkeit kommt es dabei nicht in Betracht, das mögliche Fehlverhalten anderer dem Geschädigten zuzurechnen.

Das Urteil konnte daher auch aus diesem Grund keinen Bestand haben.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Revision war zuzulassen, da der Streit über die Fraunhofer-Liste versus Schwacke noch nicht abgeschlossen ist.

Der Tenor war im Wege der formlosen Berichtigung hinsichtlich der vorgerichtlichen Anwaltskosten entsprechend dem Klägerantrag um „unter Berücksichtigung einer Zahlung in Höhe von 316,18 € am 19.11.2012" zu ergänzen.

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Bedeutung für die Praxis: Das Gericht befasst sich mit der konkreten Situation der Geschädigten. Es wird deutlich, dass die Segelanweisungen des BGH, über einen bisher nicht definierten "Normaltarif" die Mietwagenrechtsprechung zu vereinheitlichen, ins Leere gehen. Scheinbar wurde verkannt, dass es eine Vielzahl von Normaltarifen mit unterschiedlichsten Leistungsspektren und dementsprechenden Preisen gibt. Die von Fraunhofer unterstellte Normaltarif-Konstellation, mit Vorbuchungsfrist, feststehender Mietdauer, Kreditkarte, Vorfinanzierung, Internetbuchung, Kaution usw. Marktforschung zu betreiben, ist mit der Realität des Normaltarifs nach einem Unfall auch dann nicht zu vergleichen, wenn der Geschädigte zunächst in Vorleistung geht, sofern er das kann. Da die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen ist, hat der in Wiesbaden ansässige Versicherer nun die Wahl, dieses Urteil beim BGH vorzulegen oder die Forderung zu bezahlen und auch damit ein eindeutiges Signal zu setzen.